Mittwoch, 2. Januar 2013
Gold - LIV
Aphasie, Aphasie ist, was Dein Vater hatte, meinte Rachel. Was Paul mal wieder positiv sehen wollte, war also Teil der Krankheit, eine verminderte Fähigkeit, sich auszudrücken. Aber Vater registrierte ganz genau, was mit ihm passierte. Nicht umsonst die Bemerkung über seine "hervorragende" Sprache. So schien es ihm eher ein "technisches" Problem zu sein, was Vater da hatte. Solange er ihn erkennen würde, wäre für ihn alles in Ordnung. Ihr Vater, so sagte später ein erfahrener Arzt aus Maintal nach einer Untersuchung, ist ein hoffnungsloser Fall. Sein Zustand wird sich nicht verbessern. Es ist erstaunlich, dass man sich noch so mit ihm unterhalten kann.
Montag, 31. Dezember 2012
Gold - LIII
Wir haben einen Termin in Nidderau, eigentlich soll heute der Heimvertrag gemacht werden. Auch den muß ich zur Kündigung von Vaters Wohnung vorlegen. Man läßt uns warten. Zwar begrüßt uns der Heimleiter mit der Frage, ob er etwas für uns tun könne, doch die Verwaltung läßt sich Zeit. Als wir schließlich herein gebeten werden, begrüßt man uns mit der Frage, warum wir eigentlich da sind. Die Dame, die uns angerufen hat, ist nicht im Haus. Da ist ein Fahler passiert. Das Zimmer ist an einen Kurzzeitpflegepatienten vergeben.
(In Vaters Krankenzimmer wird Musik gemacht, ein Mann spielt Gitarre, eine Frau schlägt auf eine flache Trommel. Paint it black, lautet die Melodie. Ein Junge ist auch noch dabei. Zuerst glaube ich, es sei mein Kind, aber es gehört wohl zu dem Mann. Vater stört die Musik, er liegt im Bett. Seine Haare sind wieder dunkler geworden. Ich will ihm am Fenster zeigen, wo ich wohne. Er springt fast aus dem Bett und läuft in seinem Jogginganzug vor mir her. Er sieht kräftig aus. Wir verlassen das Zimmer, vor dem Fenster draußen stehen hohe Häuser, so dass wir nicht weit sehen können. Vater genügt es dennoch. Als er wieder ins Bett geht, sehe ich, dass sein Oberkörper ganz gerötet ist. Ich sitze fast auf ihm und beginne zu weinen.
Das ist meine Anspannung, versuche ich zu erklären, aber er weiß schon, was das ist. Ich höre das zweite Klopfen, sagt er. Er macht sich bereit, so als wüsste er, was das bedeutet. Er ist zufrieden. Ich wache auf und fühle mich geborgen. Ich weiß, dass ich nichts und niemanden fürchten muss und meine Zeit in Gelassenheit zu Ende leben werde, egal, was auch passiert.
24.9.2007)
Wir können es uns ansehen. Der Anblick begeistert mich schon nicht. Das Risiko, zu warten, ob nach der Kurzzeitpflege das Zimmer noch frei wird, ist uns zu hoch. Wo sollen wir mit Vater bleiben? Dazu kommt diese übergroße, schnodderig unsympathische Art der Verwaltungsdame. Meine Frau insistiert und regt sich auf, das kann ich schon lange nicht mehr. Aber es hilft nichts, Konsequenzen soll das Ganze haben. Von denen werden wir nichts haben. (Der Heimleiter will mir nach meiner Beschwerde später ein Zimmer anbieten und ruft mich sooft an, bis ich seine Entschuldigung akzeptiere.)
(In Vaters Krankenzimmer wird Musik gemacht, ein Mann spielt Gitarre, eine Frau schlägt auf eine flache Trommel. Paint it black, lautet die Melodie. Ein Junge ist auch noch dabei. Zuerst glaube ich, es sei mein Kind, aber es gehört wohl zu dem Mann. Vater stört die Musik, er liegt im Bett. Seine Haare sind wieder dunkler geworden. Ich will ihm am Fenster zeigen, wo ich wohne. Er springt fast aus dem Bett und läuft in seinem Jogginganzug vor mir her. Er sieht kräftig aus. Wir verlassen das Zimmer, vor dem Fenster draußen stehen hohe Häuser, so dass wir nicht weit sehen können. Vater genügt es dennoch. Als er wieder ins Bett geht, sehe ich, dass sein Oberkörper ganz gerötet ist. Ich sitze fast auf ihm und beginne zu weinen.
Das ist meine Anspannung, versuche ich zu erklären, aber er weiß schon, was das ist. Ich höre das zweite Klopfen, sagt er. Er macht sich bereit, so als wüsste er, was das bedeutet. Er ist zufrieden. Ich wache auf und fühle mich geborgen. Ich weiß, dass ich nichts und niemanden fürchten muss und meine Zeit in Gelassenheit zu Ende leben werde, egal, was auch passiert.
24.9.2007)
Wir können es uns ansehen. Der Anblick begeistert mich schon nicht. Das Risiko, zu warten, ob nach der Kurzzeitpflege das Zimmer noch frei wird, ist uns zu hoch. Wo sollen wir mit Vater bleiben? Dazu kommt diese übergroße, schnodderig unsympathische Art der Verwaltungsdame. Meine Frau insistiert und regt sich auf, das kann ich schon lange nicht mehr. Aber es hilft nichts, Konsequenzen soll das Ganze haben. Von denen werden wir nichts haben. (Der Heimleiter will mir nach meiner Beschwerde später ein Zimmer anbieten und ruft mich sooft an, bis ich seine Entschuldigung akzeptiere.)
Samstag, 29. Dezember 2012
Gold - LII
Paul kam es vor, als hätte er damals eine glückliche Zeit gehabt, als der Vater nach Frankfurt kam. So war es wohl auch trotz der Umstände die seine Krankheitsgeschichte begleiteten.
Die Ärztin sagt mir, sie sei verpennt. Ich müsse entschuldigen, sie hätte Nachtdienst gehabt und daher könne sie nicht so gut sprechen. Damit meint sie es noch gut mit mir. Manche denken einfach nur; scheiße, warum hält mich dieser Mensch jetzt auf. Den freundlichen Doktor, der den besorgten Angehörigen, verbindlich, aber gut gelaunt Auskunft gibt, den gibt es nicht. Der soll auch Verständnis für die Sorgen von Angehörigen aufbringen?. Die Gespräche werden den Ärzten auf genötigt, die schon ihre Mühe haben, den Alltag ohne lästige Kundenbefragungen zu meistern. Ein Dankeschön ist angebracht, wenn jemand mehr als zwei Sätze spricht, übermenschlich erscheint schon eine menschliche Dimension im Gespräch. Ein Gedanke an die Folgen für den Patienten..
So hechelt man ehrfürchtig herum, immer mit dem Gedanken, dankbar sein zu müssen. Den Verweis auf die Umstände im Kopf.
Für all das. Wenn der Patient nicht selbst in der Lage ist, sich zu äußern oder auf seine Sachen aufzupassen, dann geht viel verloren. Wir haben hier 10 Uhren, sie müssten mal vorbei kommen, um sich die richtige auszusuchen. Kenne ich die Uhr meines Vaters wieder?
Eine Brille bleibt bei einer Verlegung zurück. Immerhin, ich kriege sie wieder, bin froh auf den Gedanken gekommen zu sein, das zu kontrollieren. Wäsche verschwindet oder wird in blaue Müllsäcke mit der Aufschrift des Patienten gesteckt. Oder auch in Mülleimertüten.
Ist die Wäsche verschwunden, besteht kaum Hoffnung, der Moloch Krankenhaus verschlingt sie und spuckt sie nicht mehr aus. Schon ein Rückruf in solcher Angelegenheit ist zu viel.
Vater kriegt nicht alles mit. Das was er merkt, beunruhigt ihn zeitweise. Ich bin seine letzte Kontrollinstanz und doch kämpfe ich gegen eine Windmühle mit vielen Flügeln.
Kenne ich das Procedere von Verlegungen und Behandlungsweisen nicht. Kann nur abnicken, wenn etwas gefragt wird. Gesagt wird von selbst nicht viel und so bastele ich bruchstückhaft an einer möglichen Krankheitsgeschichte, an einem möglichen weiteren Verlauf, denn eine Prognose gibt kein Arzt. Manchmal ist man verloren, bevor man sich verloren hat.
Die Ärztin sagt mir, sie sei verpennt. Ich müsse entschuldigen, sie hätte Nachtdienst gehabt und daher könne sie nicht so gut sprechen. Damit meint sie es noch gut mit mir. Manche denken einfach nur; scheiße, warum hält mich dieser Mensch jetzt auf. Den freundlichen Doktor, der den besorgten Angehörigen, verbindlich, aber gut gelaunt Auskunft gibt, den gibt es nicht. Der soll auch Verständnis für die Sorgen von Angehörigen aufbringen?. Die Gespräche werden den Ärzten auf genötigt, die schon ihre Mühe haben, den Alltag ohne lästige Kundenbefragungen zu meistern. Ein Dankeschön ist angebracht, wenn jemand mehr als zwei Sätze spricht, übermenschlich erscheint schon eine menschliche Dimension im Gespräch. Ein Gedanke an die Folgen für den Patienten..
So hechelt man ehrfürchtig herum, immer mit dem Gedanken, dankbar sein zu müssen. Den Verweis auf die Umstände im Kopf.
Für all das. Wenn der Patient nicht selbst in der Lage ist, sich zu äußern oder auf seine Sachen aufzupassen, dann geht viel verloren. Wir haben hier 10 Uhren, sie müssten mal vorbei kommen, um sich die richtige auszusuchen. Kenne ich die Uhr meines Vaters wieder?
Eine Brille bleibt bei einer Verlegung zurück. Immerhin, ich kriege sie wieder, bin froh auf den Gedanken gekommen zu sein, das zu kontrollieren. Wäsche verschwindet oder wird in blaue Müllsäcke mit der Aufschrift des Patienten gesteckt. Oder auch in Mülleimertüten.
Ist die Wäsche verschwunden, besteht kaum Hoffnung, der Moloch Krankenhaus verschlingt sie und spuckt sie nicht mehr aus. Schon ein Rückruf in solcher Angelegenheit ist zu viel.
Vater kriegt nicht alles mit. Das was er merkt, beunruhigt ihn zeitweise. Ich bin seine letzte Kontrollinstanz und doch kämpfe ich gegen eine Windmühle mit vielen Flügeln.
Kenne ich das Procedere von Verlegungen und Behandlungsweisen nicht. Kann nur abnicken, wenn etwas gefragt wird. Gesagt wird von selbst nicht viel und so bastele ich bruchstückhaft an einer möglichen Krankheitsgeschichte, an einem möglichen weiteren Verlauf, denn eine Prognose gibt kein Arzt. Manchmal ist man verloren, bevor man sich verloren hat.
Freitag, 28. Dezember 2012
Gold - LI
Wir erhalten einen Anruf vom Heim in Nidderau, es sei doch ein Pflegeplatz frei. Das war meine Idealvorstellung, die Egon mittlerweile teilt. Als ich ihn wieder nach der Arbeit besuche, hat er die Isolation hinter sich. Er ist in einem Südzimmer mit Blick auf die Frankfurter Skyline untergebracht. Sein Bett steht am Fenster. Das Abendbrot ist schon da. Das innen stehende Bett ist mit einem alten Herrn belegt, dessen Frau am Bett sitzt. Der Mann ist bestimmt genauso schwer krank wie Vater, er spricht kaum. Vater stellt selbstironisch fest: "Ich spreche ein hervorragendes Deutsch."
Tatsächlich hat er durch die Krankheit seinen Dialekt etwas verloren. Die Mühsal des sich Artikulierenmüssens zwingt ihn zu einer deutlicheren Aussprache. Auch wenn das nicht immer gelingt, weil Kraft und Vermögen fehlen, der Kasselaner Dialekt wird schwächer. Ich muß mal wieder das Fenster öffnen, zumindest kippen, Vater billigt es mir zu. Der Geruch von zwei liegenden Patienten in einem relativ kleinen Zimmer ist schwer auszuhalten. Die alte Dame ist erleichtert. Sie meint, Vater wolle das Fenster meist zu haben, sonst hätten sie es schon öfter mal länger aufgelassen. Von dem Wasser, was ich beim letzten Besuch gebracht hatte, ist bis auf eine halbe Flasche noch alles da. Ich frage ihn, ob ich ihm mal etwas anderes mit bringen soll. Gerade hat er vom Abendessen die kleinen Gürkchen geknabbert. Er meint nun, die könnte ich ihm mal mit bringen, die würden ihm schmecken. Wenn er seine Zähne drin hat, sieht er einfach normaler aus. Ich erzähle ihm von der Zusage eines Heimplatzes bei uns in der Nähe. Er will wissen, wie weit das von uns ist. Dann meint er, meine Frau könne doch für ihn kochen. Die Vorstellung allein ist für mich so absurd, dass er das gleich sieht. Ich frage ihn, ob jemand mit ihm das Laufen geübt hat. Ja, wenn er auf den Asphalt sieht, wird ihm immer ganz schwindlig. Da er das Gehen wohl auf dem Krankenhausflur übt, kann er da nur den Boden gemeint haben. Wir sind im 8. Stockwerk, wenn man aus dem Fenster sieht, könnte man schwindeln. Die Frau des Mitpatienten sitzt mittlerweile am Tisch und liest. Sie leistet ihrem Mann einfach nur Gesellschaft. Ich hätte das meinem Vater auch gewünscht. Andererseits paßt es nicht zu ihm. Zu oft kommt seine wegwerfende Handbewegung. Er stellt fest, dass ich nun zu meinen Bübchen gehen solle, als ich mich verabschiede. Seine Vorstellung von meinem Leben und die Realität klaffen auseinander.
Donnerstag, 27. Dezember 2012
Gold - L
Paul war aus ihrer Sicht einfach naiv oder er bastelte sich das Leben so zurecht, wie er das brauchte.
Zweifelsohne auch eine Kunst, dachte Rachel. Manchmal beneidete sie ihn um diese Eigenschaft, die Realität ausblenden zu können, sie selbst nutzte lieber andere Möglichkeiten. Sie tat so viel wie möglich, um in ihren Augen gut auszusehen und scherte sich dabei wenig um die Erwartungen, die sie schürte. Sie war nicht böse um ihre Distanz zu den Mitmenschen. Sie wusste, dass alles, was Menschenhirne sich früher oder später mal ausdachten, auch irgend wann geschehen würde. Und sie wollte nicht bei allzu vielen Sachen dabei sein. Die Trägheit der Brei, in dem sie ständig herum rühren müsste, wollte sie etwas Mitmenschliches erreichen. Aber ein Brei ist kein Fundament und schon gar nicht für ihr Leben.
In diesem einen Dasein wollte sie allein bestimmen, welche Zeit sie sich wann für was nahm.
Entscheidungen für die Liebe verortete sie klar im Bereich der Märchen- und Sagenwelt. Wie im Mittelalter, so dachte sie, ist Egoismus und Machtstreben die Motivation für alles, gepaart mit der stets gewaltigen Angst, etwas zu verlieren.
Die Vorstellung, dass viele Menschen einfach ihre Hausaufgaben nicht machten und damit zum Problem für andere wurden, widerte sie per se an.
Wäre ihr ein Mann nicht sowieso schon zu viel, so wäre es ein Mann mit Problemen umso mehr.
Sie kokettierte durchaus mit den Anzüglichkeiten, die manche Verehrer ihr zuteil werden ließen, aber es war eben nur ein Spiel für sie.
Das ganze Leben eine einmalige Spielwiese, für die es nach dessen Ende keine Fortsetzung geben würde.
Da befand sich Rachel mit Pauls Vater in seltener Übereinstimmung.
"Glaubst Du daran?" hatte dieser seinen Sohn zweifelnd und fast spöttisch gefragt, als dieser ihm seine Meinung vom Leben nach dem Tod erzählte.
Zweifelsohne auch eine Kunst, dachte Rachel. Manchmal beneidete sie ihn um diese Eigenschaft, die Realität ausblenden zu können, sie selbst nutzte lieber andere Möglichkeiten. Sie tat so viel wie möglich, um in ihren Augen gut auszusehen und scherte sich dabei wenig um die Erwartungen, die sie schürte. Sie war nicht böse um ihre Distanz zu den Mitmenschen. Sie wusste, dass alles, was Menschenhirne sich früher oder später mal ausdachten, auch irgend wann geschehen würde. Und sie wollte nicht bei allzu vielen Sachen dabei sein. Die Trägheit der Brei, in dem sie ständig herum rühren müsste, wollte sie etwas Mitmenschliches erreichen. Aber ein Brei ist kein Fundament und schon gar nicht für ihr Leben.
In diesem einen Dasein wollte sie allein bestimmen, welche Zeit sie sich wann für was nahm.
Entscheidungen für die Liebe verortete sie klar im Bereich der Märchen- und Sagenwelt. Wie im Mittelalter, so dachte sie, ist Egoismus und Machtstreben die Motivation für alles, gepaart mit der stets gewaltigen Angst, etwas zu verlieren.
Die Vorstellung, dass viele Menschen einfach ihre Hausaufgaben nicht machten und damit zum Problem für andere wurden, widerte sie per se an.
Wäre ihr ein Mann nicht sowieso schon zu viel, so wäre es ein Mann mit Problemen umso mehr.
Sie kokettierte durchaus mit den Anzüglichkeiten, die manche Verehrer ihr zuteil werden ließen, aber es war eben nur ein Spiel für sie.
Das ganze Leben eine einmalige Spielwiese, für die es nach dessen Ende keine Fortsetzung geben würde.
Da befand sich Rachel mit Pauls Vater in seltener Übereinstimmung.
"Glaubst Du daran?" hatte dieser seinen Sohn zweifelnd und fast spöttisch gefragt, als dieser ihm seine Meinung vom Leben nach dem Tod erzählte.
Samstag, 22. Dezember 2012
Gold - XLIX
Im Krankenhaus sehe ich Vater nun öfter, allerdings folgt dem positiven Eindruck bei den nächsten Besuchen kein weiterer in Sachen Beweglichkeit. Er weigert sich fast, weitere Versuche mit dem Sitzen zu machen. Schon in der ersten Woche leidet er unter einer so schweren Infektion, dass er isoliert werden muß. Ich finde ihn am ganz anderen Ende des Ganges im letzten Zimmer wieder. Ich muß einen Mundschutz und einen Kittel tragen, Handschuhe anziehen. Ich habe Vater Wasser mitgebracht. Er greift danach wie nach einem Flaschenbier und trinkt sofort. Ich hatte damit gerechnet, dass er sich über meinen Aufzug lustig macht, aber er ignoriert es fast. Mir ist er lästiger als ihm. Er meint: "Da kommst Du also angeschlichen." Er hatte mit meinem Erscheinen nicht gerechnet und versucht mir nun zu erzählen, dass man ihn in einen anderen Raum gefahren habe, wo er allein war. Niemand habe sich um ihn gekümmert. Eine Sauerei sei das gewesen. Von seinem Zimmer aus geht der Blick Richtung Norden. Das Fenster ist klein, man kann es mit einer Gardine zu machen. Er deutet an, dass er Probleme mit dem Liegen hat, es tut ihm weh. Sonst spricht er ja nie über Schmerzen. Da ich seine Uhr nicht wieder besorgen kann, gebe ich im meine. Die hat auch ein Metallarmband, man kann es aber nicht einfach überziehen, es muß verschlossen werden. Das macht im Probleme, aber er nimmt sie trotzdem. Wir sind nun sehr vertraut, dass ich allein komme, scheint ihm zu gefallen. Seine Handgelenke sind so dünn geworden, das die Uhr hin und her rutscht. Mir verrutscht immer der Mundschutz. Er spricht so, als wenn er sich vorher Luft verschaffen muß. Aber er ist ziemlich lebhaft. Ich verspreche ihm, dass ich ihm ein Telefon besorgen werde. Bevor ich gehe, ziehe ich die Gardine wunschgemäß etwas zu und stelle den Fernseher wieder an. Leider kriege ich den Fernseher nicht so eingestellt, wie er das braucht. Ich verspreche, der Schwester Bescheid zu geben. Ich habe die ganze Zeit niemanden gesehen. Schließlich treffe ich jemand im Schwesternzimmer. Ja, wir kommen gleich sowieso mit dem Abendessen, heißt es. Bevor ich zu Vater ging, war ich noch kurz beim sozialen Dienst, der in einem Baucontainer untergebracht ist. Hier bekomme ich mein Attest, das ich dem Amtsgericht vorlegen muß, um die Wohnung kündigen zu können. Frau Dr. F. hat es unterschrieben. Durch Egons Erkrankung verzögert sich das Legen der Magensonde. Das ist ein Zeitgewinn bei der Suche eines Heimplatzes.
Freitag, 21. Dezember 2012
Gold - XLVIII
Paul hatte auch an dem Verlust der Beziehung zu seinem jüngeren Bruder gelitten. Waren sie einst Leidensgenossen, die sich in ihrem gemeinsamen Zimmer die Streitereien der Eltern ansehen oder mindestens anhören mussten, so war der Bruder nach seinem Auszug allein mit einem Vater, der seine Behinderung nicht anerkannte und mit einer Mutter, die sich nicht darum scherte.
Paul war ja nun Betreuer des Vaters und konnte sich gut vorstellen, auch die Betreuung des Bruders zu übernehmen, wenn gleich er wusste, dass dieser in erste Linie auch auf finanziellen Profit aus war.
Zudem stieß ihn dessen latent vorhandene enorme Aggression ab. Schon als Kind hatte er Dinge zerstört, die eigentlich nicht zerstörbar waren. Für Paul war das damals kein Problem, den aufgrund des Altersunterschieds hatte er meist die klare Oberhand.
Nun aber waren die Karten anders gemischt, im Zweifelsfall wäre wohl der Bruder stärker und hätte das Überraschungsmoment auf seiner Seite, denn Paul wusste nie vorher, wann er los legen würde.
Deine Gespräche mit ihm sind wie ein Verhör, sagte ihm seine Frau. Und er wusste nicht, wie er anderes als durch Fragen heran kommen sollte an dieses Bollwerk, das sein Bruder darstellte.
Sehr viel später erfuhr er, dass der Bruder nach jedem familiären Kontakt psychologisch betreut werden musste. Er war also Teil des Problems. Wer fragt, der führt. Und Führung war nicht das, was der Bruder wollte, auch wenn er nicht in der Lage war, dies zu formulieren.
Es sah also so aus, als sei die einzig übrig gebliebene Verbindung zur Vergangenheit der kranke Vater, den Paul nun in seiner Nähe hatte und überdies glaubte er, er könne die Beziehung zu ihm nun so gestalten, wie er es brauchte. Rachel war diesbezüglich deutlich zurückhaltender.
Paul zögerte manchmal mit den Besuchen, um die Vorfreude länger auskosten zu können.
Paul war ja nun Betreuer des Vaters und konnte sich gut vorstellen, auch die Betreuung des Bruders zu übernehmen, wenn gleich er wusste, dass dieser in erste Linie auch auf finanziellen Profit aus war.
Zudem stieß ihn dessen latent vorhandene enorme Aggression ab. Schon als Kind hatte er Dinge zerstört, die eigentlich nicht zerstörbar waren. Für Paul war das damals kein Problem, den aufgrund des Altersunterschieds hatte er meist die klare Oberhand.
Nun aber waren die Karten anders gemischt, im Zweifelsfall wäre wohl der Bruder stärker und hätte das Überraschungsmoment auf seiner Seite, denn Paul wusste nie vorher, wann er los legen würde.
Deine Gespräche mit ihm sind wie ein Verhör, sagte ihm seine Frau. Und er wusste nicht, wie er anderes als durch Fragen heran kommen sollte an dieses Bollwerk, das sein Bruder darstellte.
Sehr viel später erfuhr er, dass der Bruder nach jedem familiären Kontakt psychologisch betreut werden musste. Er war also Teil des Problems. Wer fragt, der führt. Und Führung war nicht das, was der Bruder wollte, auch wenn er nicht in der Lage war, dies zu formulieren.
Es sah also so aus, als sei die einzig übrig gebliebene Verbindung zur Vergangenheit der kranke Vater, den Paul nun in seiner Nähe hatte und überdies glaubte er, er könne die Beziehung zu ihm nun so gestalten, wie er es brauchte. Rachel war diesbezüglich deutlich zurückhaltender.
Paul zögerte manchmal mit den Besuchen, um die Vorfreude länger auskosten zu können.
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