Donnerstag, 13. Dezember 2012

Gold - XLV

Wir können ihn noch ein bis zwei Wochen hier behalten und es gibt hier einen sozialen Dienst, der sich um die Unterbringung in einem Pflegeheim kümmert. Auch in unserer Gegend. Ich bin skeptisch, ich weiß, aus einer Woche Krankenhaus werden leicht zwei usw.
Ich argumentiere damit, dass die Besuche für meinen Vater wichtig sind. Dr. F. ist wieder sehr aufgeschlossen, er sagt mir erst einmal zu, es in Hanau zu probieren. Er meint aber, dass kein anderes Krankenhaus Vater aufnehmen würde, weil er ja bereits in Behandlung ist. Er ist sich da sehr sicher, überläßt es aber mir, Krankenhäuser zu suchen. Neben der Krankenhaussuche telefoniere ich nun seinen Sachen nach. Im Balserischen Stift ist angeblich nichts geblieben, die Reaktion ist zudem da sehr schwerfällig. Im PKH werde ich fündig, sein Portemonnaie ist dort. Bei der Beschreibung der Brille wird es schwierig für mich. Wir haben hier etliche Brillen und Uhren, wenn Sie vorbei kommen wollen.. 
Nach meiner Beschreibung wird eine Brille ausgesucht. Die Uhr Vaters kenne ich nicht so genau. Man verspricht mir, die Sachen in das evangelische Krankenhaus zu bringen.
Nachdem sich Hanau mal wieder als zugenagelt erweist (im St. Vinzenz-Krankenhaus stehen die Patienten mit ihren Betten auf dem Flur), versuche ich es in Frankfurt.
Das Markus-Krankenhaus weist mich ab, aber im Nordwest-Krankenhaus ist etwas frei.
Ich bekomme die Kontaktdaten der Abteilung und der Ärztin genannt und gebe das postwendend an Dr.F. in Gießen weiter. Der will das erst nicht glauben, akzeptiert es aber schließlich. Der Patient soll zu einem bestimmten Termin da sein. Wenn es Ihrem Vater besser geht, werde er dem Transport zu stimmen. Eine leichte Besserung wird schließlich verzeichnet, aber der Termin nicht gehalten. Vater kommt am 16.2.2007 nach Frankfurt. Dr. F. sagte noch beim letzten Telefonat: Ihr Vater freut sich auf Sie. 
Das war natürlich wie Weihnachten und Ostern zugleich für mich. In der Tat wurde er erst an einem Freitag und am frühen Nachmittag eingeliefert. 

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Gold - XLIV

Du hast also wegen dieser Frau dein altes Leben aufgegeben? fragte Rachel. Paul war erstaunt, wie wenig sie offenbar die Situation verstand, in der er sich befunden hatte. Aber es war ihm schon immer aufgefallen, dass Menschen offensichtlich, die aus ihrer Sicht wichtigen "Highlights" behalten und kommentieren. Er wollte nicht soweit gehen, zu behaupten, dass Frauen generell die Rolle, die Frauen in einer Geschichte spielen können, nur aus dem eigenen Blickwinkel verfolgen.
Es schien ihm aber klar, dass jeder Mensch in seinem eigenen Universum lebte und nur die Dinge zu ordnen konnte, die er selbst mal erlebt hatte. Deswegen legte er auch nicht all zu viel Energie an den Tag, um Erklärungen abzugeben. Wenn er schriebe, dann sicher nur für sich. 
Diese Einsicht stimmte ihn ruhiger, als er gerade zur damaligen Zeit wirklich war. Autarkie hatte er sich erarbeiten müssen. Wer seinen auf einem alten Holzstuhl sitzenden Vater als Gegner ausgehalten hatte, der brauchte sich vor neuen Feinden nicht zu fürchten. 
Da war zum Beispiel die Schwägerin seiner neuen Freundin. Sie hatte ihren Lebensplan zusammen mit ihrer Schwester vorgesehen und sah in Paul nun den Rivalen, den es auszuschalten gab.
Aber: Feindschaften erschienen Paul als vertraut, Freundschaften eher als unsicher. Und Anonymität gab Sicherheit: Frankfurt. 
Mit dieser Einstellung bist Du nach Frankfurt gekommen? Du willst mir nicht sagen, dass Du keine Liebe brauchst? Rachel war ein wenig mitleidig und zugleich beleidigt.
Paul hatte aber zuhause keine Anreden benutzt. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, "Vati" oder ähnliches zu seinem Vater zu sagen. Vielleicht hätte es Vater amüsiert, vielleicht hätte er aber auch seine Autorität untergraben gesehen. Seine Freundin hatte konstatiert, dass sie kein Verhältnis zueinander hätten,
die indirekten Anreden fand sie lustig.
Da stimmte Rachel sofort zu, bestand jedoch auf Antwort.
Paul antwortete eigentlich nicht gern auf so etwas und wenn, dann gab es ein Statement.
Die Liebe, sagte er, ist nicht platt wie eine Flunder. Sie ist vielseitig, sie kann mal Hass sein und mal in der Grauzone. Sie besteht auch über Entfernungen und ohne Nähe. Das beweist doch die Geschichte, die Du gerade liest.    

Dienstag, 11. Dezember 2012

Gold - XLIII

So sitzen wir also an dem folgenden Freitag in seinem Krankenzimmer. Nach der obligatorischen Pause in der Cafeteria beginnt die Suche nach seinem Hab und Gut. Die Handtücher vom Balserischen Stift fehlen. Ebenso sein Portemonnaie, seine Brille und die Uhr. Ich kriege eine nervöse Phase und es entwickelt sich ein Streit. Ich hätte letztes Mal besser kontrollieren sollen. Während ich versuche, zu beschwichtigen, um Vater nicht zu beunruhigen, wird meine Frau immer unruhiger. Vater ist erstaunlich gelassen, sagt nur: "Streitet Euch nicht." Ich sage "Wir streiten immer." Fast scheint es mir, als würde er gleich aufstehen. Er nimmt die Befindlichkeiten unserer Beziehung deutlich wahr. Ich kriege alles wieder, sage ich trotzig, obwohl ich nicht recht daran glaube. Ich habe ein Bild von mir und den Kindern gerahmt  und stelle es auf seinen Nachttisch. Es gefällt ihm. Eigentlich waren wir heute hier, um mit Dr. F. zu reden. Leider mußte dieser unplanmäßig einen Nachtdienst übernehmen und war also nicht da. Der diensthabende Arzt informiert mich darüber, dass Vater wahrscheinlich eine feste Magensonde gelegt werden müsse. Nun werde er solange behandelt, bis die Infektionen im Griff sind. Wir müssen es nun noch regeln, dass Vater endlich die Haare geschnitten bekommt. Ich hinterlasse Geld bei den Schwestern. Im Krankenhaus gibt es keinen Friseur, es kommt manchmal jemand aus der Umgebung vorbei. Kein Erfolg ist auch die Nachfrage nach den fehlenden Gegenständen. Bei den Schwestern ist nichts. Sie fühlen sich auch nicht für Nachfragen zuständig. Immerhin: die Krankenversicherungskarte ist da.
Den Versuch einer Essensaufnahme verweigert Egon in unserer Gegenwart. Wir mögen ihn auch nicht füttern. Zu groß ist die Ungewißheit, wieviel er und ob er überhaupt schlucken kann. Ich versuche Vater noch zu ermuntern. Mein Bruder sei ja auch in der Stadt und könne ihn besuchen. "Das kann er ja mal machen." Sagt Vater daraufhin. Den Plan habe ich innerlich bereits lange verworfen. Mein Bruder ist dazu nicht wirklich bereit und Halbherzigkeiten sind bei meinem Vater nicht mehr angebracht.
Als wir gehen, sagen wir den Schwestern im Flur, sie könnten Vater jetzt drehen. Außer ein paar nichts sagenden Blicken erwarten wir keine Reaktion. Spontane Planänderungen sind hier wohl nicht drin.
Dr. F. ist am Telefon sehr auskunftsbereit, alles geht telefonisch. Er erklärt mir, dass es durch das Verschlucken von Speisen immer wieder zu Lungenentzündungen kommen kann. Das müssen keine Infektionen sein. Zudem müsse Vater, um zu Kräften zu kommen, mit einer festen Magensonde ernährt werden. So schwach, wie ich Vater gesehen habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass er ins PKH und dann zurück in die Reha gehen kann. Seit er in Gießen ist, stagniert alles. Ich dränge auf eine Verlegung in meine Nähe. Internistisch kann er genauso gut in Frankfurt behandelt werden. Herr Dr.F. stimmt mir prinzipiell zu. 
Aber er kämpft um seinen Patienten. Medizinisch, sagt er, sei die Verlegung nicht notwendig.

Montag, 10. Dezember 2012

Gold - XLII

Paul weigerte sich noch, eine gewisse Regel in seinem Leben zu erkennen. Sobald ihm jemand nahe kam, 
sei es als Freund oder Freundin, sah sich diese Person etlichen unschönen Verhaltensweisen der anderen Bekannten ausgesetzt. Die Entscheidung für jemanden schien automatisch eine Entscheidung gegen den Rest der Welt zu sein. Sein Kreis der Kneipenbekanntschaften war dahin. Leute, mit denen er sich manchmal täglich getroffen, manche Nächte verbracht hatte, wendeten sich ab. Ebenso sein "bester" nordhessischer "Freund". Der Neubeginn war eine Zeit der stillschweigenden Abschiede.
Zusätzlich quälte ihn die latent immer schon vorhandene Ungewissheit, wie er sein Sprachstudium in Frankfurt abschließen sollte. Er fragte sich, wie er seine englischen Sprachkenntnisse einsetzen sollte, wenn fast alle Vorlesungen in deutsch gehalten wurden. Und wie er einen Professor dazu bringen könnte, ihm Tipps für eine Forschungsarbeit zu geben. Der Amerikanistikprofessor war sicher ein netter alten Zausel, aber gerade deswegen auch eher an jungen Studentinnen interessiert. Er wunderte sich über die einzigen in englisch gehaltenen Vorlesungen für Linguistik und stöberte in Büchern herum, deren Logik ihm fremd war. Diese ganze Suche nach wortgeschichtlichen Bedeutungen erschien ihm völlig abstrus und an den Haaren herbei gezogen. Soweit er ein System an der Frankfurter Uni erkennen konnte, bestand es darin, möglichst viele Scheine zusammen zu bekommen. Scheine gab es für die Teilnahme an Seminaren oder für das Schreiben von Ausarbeitungen. Da eine Zwischenprüfung genauso fehlte wie jede Anleitung für ein sinnvolles Studium, würde er auf ewig  studieren können, bis er alles zusammen hatte. Die in Frankfurt praktizierte völlige Freiheit bei der Gestaltung des Studiums irritierte ihn und machte ihn angesichts der begrenzten zeitlichen Gewährung von Bafög sehr unsicher. Sein ehemaliger Chef hatte seine Studienabsichten resignierend mit den Worten, er wolle also die Frankfurter Uni beglücken, abgetan.
In der Tat hatte Paul ja bereits neben seinem Ausbildungsberuf in einem weiteren Beruf ohne Ausbildung gearbeitet. Er war die Arbeit als Buchhersteller und Auftragsabwickler allerdings leid gewesen und hätte sich gern den Aufstieg zu einem Lektor ermöglicht. Die Zeit aber schien ihn wieder einmal zu überholen. 
Mittlerweile wurde auch für sein ehemaliges Arbeitsgebiet nur noch Leute mit einem abgeschlossenen Studium eingestellt. Paul wusste das, da er stets Kontakt zu seinen Kolleginnen gehalten hatte.    
So tat er, was notwendig war, um wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Er ging zurück, sobald sich die Chance bot.