Paul kam es vor, als hätte er damals eine glückliche Zeit gehabt, als der Vater nach Frankfurt kam. So war es wohl auch trotz der Umstände die seine Krankheitsgeschichte begleiteten.
Die Ärztin sagt mir, sie sei verpennt. Ich müsse entschuldigen, sie hätte Nachtdienst gehabt und daher könne sie nicht so gut sprechen. Damit meint sie es noch gut mit mir. Manche denken einfach nur; scheiße, warum hält mich dieser Mensch jetzt auf. Den freundlichen Doktor, der den besorgten Angehörigen, verbindlich, aber gut gelaunt Auskunft gibt, den gibt es nicht. Der soll auch Verständnis für die Sorgen von Angehörigen aufbringen?. Die Gespräche werden den Ärzten auf genötigt, die schon ihre Mühe haben, den Alltag ohne lästige Kundenbefragungen zu meistern. Ein Dankeschön ist angebracht, wenn jemand mehr als zwei Sätze spricht, übermenschlich erscheint schon eine menschliche Dimension im Gespräch. Ein Gedanke an die Folgen für den Patienten..
So hechelt man ehrfürchtig herum, immer mit dem Gedanken, dankbar sein zu müssen. Den Verweis auf die Umstände im Kopf.
Für all das. Wenn der Patient nicht selbst in der Lage ist, sich zu äußern oder auf seine Sachen aufzupassen, dann geht viel verloren. Wir haben hier 10 Uhren, sie müssten mal vorbei kommen, um sich die richtige auszusuchen. Kenne ich die Uhr meines Vaters wieder?
Eine Brille bleibt bei einer Verlegung zurück. Immerhin, ich kriege sie wieder, bin froh auf den Gedanken gekommen zu sein, das zu kontrollieren. Wäsche verschwindet oder wird in blaue Müllsäcke mit der Aufschrift des Patienten gesteckt. Oder auch in Mülleimertüten.
Ist die Wäsche verschwunden, besteht kaum Hoffnung, der Moloch Krankenhaus verschlingt sie und spuckt sie nicht mehr aus. Schon ein Rückruf in solcher Angelegenheit ist zu viel.
Vater kriegt nicht alles mit. Das was er merkt, beunruhigt ihn zeitweise. Ich bin seine letzte Kontrollinstanz und doch kämpfe ich gegen eine Windmühle mit vielen Flügeln.
Kenne ich das Procedere von Verlegungen und Behandlungsweisen nicht. Kann nur abnicken, wenn etwas gefragt wird. Gesagt wird von selbst nicht viel und so bastele ich bruchstückhaft an einer möglichen Krankheitsgeschichte, an einem möglichen weiteren Verlauf, denn eine Prognose gibt kein Arzt. Manchmal ist man verloren, bevor man sich verloren hat.
Wir erhalten einen Anruf vom Heim in Nidderau, es sei doch ein Pflegeplatz frei. Das war meine Idealvorstellung, die Egon mittlerweile teilt. Als ich ihn wieder nach der Arbeit besuche, hat er die Isolation hinter sich. Er ist in einem Südzimmer mit Blick auf die Frankfurter Skyline untergebracht. Sein Bett steht am Fenster. Das Abendbrot ist schon da. Das innen stehende Bett ist mit einem alten Herrn belegt, dessen Frau am Bett sitzt. Der Mann ist bestimmt genauso schwer krank wie Vater, er spricht kaum. Vater stellt selbstironisch fest: "Ich spreche ein hervorragendes Deutsch."
Tatsächlich hat er durch die Krankheit seinen Dialekt etwas verloren. Die Mühsal des sich Artikulierenmüssens zwingt ihn zu einer deutlicheren Aussprache. Auch wenn das nicht immer gelingt, weil Kraft und Vermögen fehlen, der Kasselaner Dialekt wird schwächer. Ich muß mal wieder das Fenster öffnen, zumindest kippen, Vater billigt es mir zu. Der Geruch von zwei liegenden Patienten in einem relativ kleinen Zimmer ist schwer auszuhalten. Die alte Dame ist erleichtert. Sie meint, Vater wolle das Fenster meist zu haben, sonst hätten sie es schon öfter mal länger aufgelassen. Von dem Wasser, was ich beim letzten Besuch gebracht hatte, ist bis auf eine halbe Flasche noch alles da. Ich frage ihn, ob ich ihm mal etwas anderes mit bringen soll. Gerade hat er vom Abendessen die kleinen Gürkchen geknabbert. Er meint nun, die könnte ich ihm mal mit bringen, die würden ihm schmecken. Wenn er seine Zähne drin hat, sieht er einfach normaler aus. Ich erzähle ihm von der Zusage eines Heimplatzes bei uns in der Nähe. Er will wissen, wie weit das von uns ist. Dann meint er, meine Frau könne doch für ihn kochen. Die Vorstellung allein ist für mich so absurd, dass er das gleich sieht. Ich frage ihn, ob jemand mit ihm das Laufen geübt hat. Ja, wenn er auf den Asphalt sieht, wird ihm immer ganz schwindlig. Da er das Gehen wohl auf dem Krankenhausflur übt, kann er da nur den Boden gemeint haben. Wir sind im 8. Stockwerk, wenn man aus dem Fenster sieht, könnte man schwindeln. Die Frau des Mitpatienten sitzt mittlerweile am Tisch und liest. Sie leistet ihrem Mann einfach nur Gesellschaft. Ich hätte das meinem Vater auch gewünscht. Andererseits paßt es nicht zu ihm. Zu oft kommt seine wegwerfende Handbewegung. Er stellt fest, dass ich nun zu meinen Bübchen gehen solle, als ich mich verabschiede. Seine Vorstellung von meinem Leben und die Realität klaffen auseinander.
Paul war aus ihrer Sicht einfach naiv oder er bastelte sich das Leben so zurecht, wie er das brauchte.
Zweifelsohne auch eine Kunst, dachte Rachel. Manchmal beneidete sie ihn um diese Eigenschaft, die Realität ausblenden zu können, sie selbst nutzte lieber andere Möglichkeiten. Sie tat so viel wie möglich, um in ihren Augen gut auszusehen und scherte sich dabei wenig um die Erwartungen, die sie schürte. Sie war nicht böse um ihre Distanz zu den Mitmenschen. Sie wusste, dass alles, was Menschenhirne sich früher oder später mal ausdachten, auch irgend wann geschehen würde. Und sie wollte nicht bei allzu vielen Sachen dabei sein. Die Trägheit der Brei, in dem sie ständig herum rühren müsste, wollte sie etwas Mitmenschliches erreichen. Aber ein Brei ist kein Fundament und schon gar nicht für ihr Leben.
In diesem einen Dasein wollte sie allein bestimmen, welche Zeit sie sich wann für was nahm.
Entscheidungen für die Liebe verortete sie klar im Bereich der Märchen- und Sagenwelt. Wie im Mittelalter, so dachte sie, ist Egoismus und Machtstreben die Motivation für alles, gepaart mit der stets gewaltigen Angst, etwas zu verlieren.
Die Vorstellung, dass viele Menschen einfach ihre Hausaufgaben nicht machten und damit zum Problem für andere wurden, widerte sie per se an.
Wäre ihr ein Mann nicht sowieso schon zu viel, so wäre es ein Mann mit Problemen umso mehr.
Sie kokettierte durchaus mit den Anzüglichkeiten, die manche Verehrer ihr zuteil werden ließen, aber es war eben nur ein Spiel für sie.
Das ganze Leben eine einmalige Spielwiese, für die es nach dessen Ende keine Fortsetzung geben würde.
Da befand sich Rachel mit Pauls Vater in seltener Übereinstimmung.
"Glaubst Du daran?" hatte dieser seinen Sohn zweifelnd und fast spöttisch gefragt, als dieser ihm seine Meinung vom Leben nach dem Tod erzählte.