Im Zug beachtet eine Dame gerade nicht meinen auf der Lehne liegenden Arm. Vielleicht ein Anstoß, um den Traum dieser Nacht Revue passieren zu lassen.
Ich sehe zwei Kinder, die mit einem Schlitten eine Skipiste hinunter fahren wollen. Jedes Kind sitzt also auf seinem eigenen. Der weiße Schnee blendet mich. Ich weiß nicht, warum das zugelassen wird. Ich habe Angst um sie, kann aber nicht eingreifen. Vor meinem Auge kreuzen sich zwei weiße Streifen, die immer breiter werden. Ich sehe nur noch weiß. Sie können das nicht geschafft haben, da herunter.
Ich wache auf, ich muss ins Licht sehen, um dieses Weiß allmählich loszuwerden.
Kinder, so erzählte Paul, waren für sie kein Thema. Zu sehr waren sie mit dem Aufbau ihrer Existenz und der Bewältigung ihrer Isolation beschäftigt. Die Nachbarn ihrer ersten gemeinsamen Wohnung waren eigentlich nicht so übel und ganz freundlich. Aber das Regiment führte in diesem Haus ein Herr Schulz. Frau Schulz sah manchmal etwas mitleidig zu ihnen herüber, aber Herr Schulz empfand Paul wohl als eine ziemliche Zumutung.
Paul hatte wohl vergessen, dass in Deutschland die Frauen immer nett und gesprächig zu sein hatten. Und sie sollten vor allem auch optisch wirken. Ja, und die Kinder? Man nimmt doch eine Frau nicht, weil man sie menschlich schätzt. Da nimmt Mann sich doch etwas Junges, so hatte es der Vater vorgegeben.
Paul interessierte das nicht, noch hatte er keine Arbeit und die neue Freundin sprach von Verlobung. Darunter konnte er sich nicht viel vorstellen. Sie trugen beide Kettchen mit den Initialen des anderen. Zwei Ignorierte, die sich beide wollten.
Samstag, 5. Januar 2013
Freitag, 4. Januar 2013
Gold - LVI
Das Krankenhaus macht nun Druck. Frau Dr. F. schaltet sich persönlich ein. Ihr Vater wird nie wieder essen können, eröffnet sie mir telefonisch.
Nach dem Einsetzen der Magensonde gibt es nun keinen Grund mehr, Vater im Krankenhaus zu behalten. Wir finden ein Heim in Langenselbold. Nach einer ursprünglichen Absage, hat sich dort überraschend eine Bewohnerin entschieden, auf das ihr schon zugesagte Einzelzimmer zu verzichten. Wir halten uns die Option offen. Da mir nach wie vor ein gemeinnütziger Träger lieber wäre, rufe ich beim DRK in Bischofsheim an. Da ist leider nichts frei, ich solle es aber mal in Dörnigheim versuchen, da sei ein neues Heim im Entstehen. Wir sehen es uns von außen an und es gefällt uns. In meiner Mittagspause fahre ich zum Gespräch mit der künftigen Heimleiterin. Ein Bus macht mir unterwegs die Tür vor der Nase zu, so laufe ich und schwitze etwas, als ich dort ankomme. Die Heimleiterin (mit Hund) erklärt mir, man pflege die Patienten so, wie man es für sich selbst auch gern haben wolle. Man brauche auch noch Zeit für die Aufnahme, man habe gerade erst mit der Belegung begonnen. Diese Woche wird es sicher nichts. Als ich schon am Bahnhof auf meinen Zug zur Rückfahrt warte, schellt mein Handy. In Bischofsheim sei nun doch ganz plötzlich ein Pflegeplatz frei geworden, die dortige Leiterin habe gerade angerufen. Zu spät, nun wird es heute nichts mehr. Wieder im Büro, vereinbare ich einen Termin für den nächsten Morgen.
Auch die Heimleiterin in Bischofsheim begrüßt mich in der Begleitung eines Hundes. Eigentlich steht das Seniorenzentrum nur Bürgern der Stadt Maintal offen, aber hier ist plötzlich etwas frei geworden und so ist es doch möglich. Das Ganze macht mir einen guten Eindruck. Die Kosten sind zumindest in der Stufe III so, dass er sie tragen kann und die Entfernung zu uns ist günstig. Ich sehe mir daher das Zimmer an. Es liegt im ersten Stock und der Blick geht auf Obstbäume, die in diesem Jahr schon zu grünen beginnen. Leider führt seitlich eine Straße vorbei und auf der anderen Straßenseite ist ein Einkaufsmarkt. Ob Egon soviel davon mit bekommt? Immerhin hat er ein eigenes Bad.
Donnerstag, 3. Januar 2013
Gold - LV
Der soziale Dienst im Krankenhaus hat schnell sein Pulver verschossen. Wir suchen im Main-Kinzig-Kreis weiter, nachdem wir uns ein recht teures Heim in Frankfurt angesehen haben. Nach der Lektüre des Buchs über Pflegeheime bin ich misstrauisch gegenüber privaten Heimträgern geworden. Man soll auf den Geruch achten, wenn man ein Heim ansieht. Uringeruch ist Zeichen für billige Windeln oder zu wenig Wechsel. Wie viel examinierte Pfleger gibt es, wie viel Personal für einen Patienten? Letzteres sind Dinge, die einem zwar erzählt werden, aber wie soll man das prüfen? Letztlich ist man auf die eigene Nase angewiesen. Im übertragenen Sinn, uns gefiel in Frankfurt nicht, dass das Heim als Riegel direkt an einer verkehrsreichen Straße steht. Wenig Auslauf drum herum, kein großer Gemeinschaftsraum und ansatzweise auch Geruch, obwohl das Haus neu und noch nicht voll belegt war.
Dabei hatte die Presse es durchaus gewürdigt (umgeschriebene Eigenberichterstattung?)
Die noch nicht erreichte volle Auslastung behindert aber eine vollständige Beurteilung.
Immerhin: die Krankenkasse hat die Stufe 1 für die Pflege bewilligt. Es würde also nicht so teuer wie gedacht. Ich muss Vater nun sagen, dass unser Nidderau-Plan gescheitert ist. Das bedauert er.
Das alte Ehepaar ist wieder zusammen. Ich kann Vater nun seine richtige Brille wieder geben. Sie war in Bad Orb verblieben. Die Brille, die man ihm in Gießen gebracht hatte, war nicht seine. Noch in der Woche hat Vater die PEG-Magensonde bekommen. Er darf nichts essen und zählt nun die Tage ab, denn man hat ihm gesagt, er dürfe es in 3-4 Tagen wieder. Die Nachricht, dass es nicht klappt, beruhigt ihn nicht. Als ich mich verabschiede und sage, dass ich nun wieder aufs Land fahre, sieht er mich an, als wolle er am liebsten mit kommen.
Draußen werfe ich die Brille eines mir nicht bekannten Menschen in den Mülleimer.
Dabei hatte die Presse es durchaus gewürdigt (umgeschriebene Eigenberichterstattung?)
Die noch nicht erreichte volle Auslastung behindert aber eine vollständige Beurteilung.
Immerhin: die Krankenkasse hat die Stufe 1 für die Pflege bewilligt. Es würde also nicht so teuer wie gedacht. Ich muss Vater nun sagen, dass unser Nidderau-Plan gescheitert ist. Das bedauert er.
Das alte Ehepaar ist wieder zusammen. Ich kann Vater nun seine richtige Brille wieder geben. Sie war in Bad Orb verblieben. Die Brille, die man ihm in Gießen gebracht hatte, war nicht seine. Noch in der Woche hat Vater die PEG-Magensonde bekommen. Er darf nichts essen und zählt nun die Tage ab, denn man hat ihm gesagt, er dürfe es in 3-4 Tagen wieder. Die Nachricht, dass es nicht klappt, beruhigt ihn nicht. Als ich mich verabschiede und sage, dass ich nun wieder aufs Land fahre, sieht er mich an, als wolle er am liebsten mit kommen.
Draußen werfe ich die Brille eines mir nicht bekannten Menschen in den Mülleimer.
Mittwoch, 2. Januar 2013
Gold - LIV
Aphasie, Aphasie ist, was Dein Vater hatte, meinte Rachel. Was Paul mal wieder positiv sehen wollte, war also Teil der Krankheit, eine verminderte Fähigkeit, sich auszudrücken. Aber Vater registrierte ganz genau, was mit ihm passierte. Nicht umsonst die Bemerkung über seine "hervorragende" Sprache. So schien es ihm eher ein "technisches" Problem zu sein, was Vater da hatte. Solange er ihn erkennen würde, wäre für ihn alles in Ordnung. Ihr Vater, so sagte später ein erfahrener Arzt aus Maintal nach einer Untersuchung, ist ein hoffnungsloser Fall. Sein Zustand wird sich nicht verbessern. Es ist erstaunlich, dass man sich noch so mit ihm unterhalten kann.
Montag, 31. Dezember 2012
Gold - LIII
Wir haben einen Termin in Nidderau, eigentlich soll heute der Heimvertrag gemacht werden. Auch den muß ich zur Kündigung von Vaters Wohnung vorlegen. Man läßt uns warten. Zwar begrüßt uns der Heimleiter mit der Frage, ob er etwas für uns tun könne, doch die Verwaltung läßt sich Zeit. Als wir schließlich herein gebeten werden, begrüßt man uns mit der Frage, warum wir eigentlich da sind. Die Dame, die uns angerufen hat, ist nicht im Haus. Da ist ein Fahler passiert. Das Zimmer ist an einen Kurzzeitpflegepatienten vergeben.
(In Vaters Krankenzimmer wird Musik gemacht, ein Mann spielt Gitarre, eine Frau schlägt auf eine flache Trommel. Paint it black, lautet die Melodie. Ein Junge ist auch noch dabei. Zuerst glaube ich, es sei mein Kind, aber es gehört wohl zu dem Mann. Vater stört die Musik, er liegt im Bett. Seine Haare sind wieder dunkler geworden. Ich will ihm am Fenster zeigen, wo ich wohne. Er springt fast aus dem Bett und läuft in seinem Jogginganzug vor mir her. Er sieht kräftig aus. Wir verlassen das Zimmer, vor dem Fenster draußen stehen hohe Häuser, so dass wir nicht weit sehen können. Vater genügt es dennoch. Als er wieder ins Bett geht, sehe ich, dass sein Oberkörper ganz gerötet ist. Ich sitze fast auf ihm und beginne zu weinen.
Das ist meine Anspannung, versuche ich zu erklären, aber er weiß schon, was das ist. Ich höre das zweite Klopfen, sagt er. Er macht sich bereit, so als wüsste er, was das bedeutet. Er ist zufrieden. Ich wache auf und fühle mich geborgen. Ich weiß, dass ich nichts und niemanden fürchten muss und meine Zeit in Gelassenheit zu Ende leben werde, egal, was auch passiert.
24.9.2007)
Wir können es uns ansehen. Der Anblick begeistert mich schon nicht. Das Risiko, zu warten, ob nach der Kurzzeitpflege das Zimmer noch frei wird, ist uns zu hoch. Wo sollen wir mit Vater bleiben? Dazu kommt diese übergroße, schnodderig unsympathische Art der Verwaltungsdame. Meine Frau insistiert und regt sich auf, das kann ich schon lange nicht mehr. Aber es hilft nichts, Konsequenzen soll das Ganze haben. Von denen werden wir nichts haben. (Der Heimleiter will mir nach meiner Beschwerde später ein Zimmer anbieten und ruft mich sooft an, bis ich seine Entschuldigung akzeptiere.)
(In Vaters Krankenzimmer wird Musik gemacht, ein Mann spielt Gitarre, eine Frau schlägt auf eine flache Trommel. Paint it black, lautet die Melodie. Ein Junge ist auch noch dabei. Zuerst glaube ich, es sei mein Kind, aber es gehört wohl zu dem Mann. Vater stört die Musik, er liegt im Bett. Seine Haare sind wieder dunkler geworden. Ich will ihm am Fenster zeigen, wo ich wohne. Er springt fast aus dem Bett und läuft in seinem Jogginganzug vor mir her. Er sieht kräftig aus. Wir verlassen das Zimmer, vor dem Fenster draußen stehen hohe Häuser, so dass wir nicht weit sehen können. Vater genügt es dennoch. Als er wieder ins Bett geht, sehe ich, dass sein Oberkörper ganz gerötet ist. Ich sitze fast auf ihm und beginne zu weinen.
Das ist meine Anspannung, versuche ich zu erklären, aber er weiß schon, was das ist. Ich höre das zweite Klopfen, sagt er. Er macht sich bereit, so als wüsste er, was das bedeutet. Er ist zufrieden. Ich wache auf und fühle mich geborgen. Ich weiß, dass ich nichts und niemanden fürchten muss und meine Zeit in Gelassenheit zu Ende leben werde, egal, was auch passiert.
24.9.2007)
Wir können es uns ansehen. Der Anblick begeistert mich schon nicht. Das Risiko, zu warten, ob nach der Kurzzeitpflege das Zimmer noch frei wird, ist uns zu hoch. Wo sollen wir mit Vater bleiben? Dazu kommt diese übergroße, schnodderig unsympathische Art der Verwaltungsdame. Meine Frau insistiert und regt sich auf, das kann ich schon lange nicht mehr. Aber es hilft nichts, Konsequenzen soll das Ganze haben. Von denen werden wir nichts haben. (Der Heimleiter will mir nach meiner Beschwerde später ein Zimmer anbieten und ruft mich sooft an, bis ich seine Entschuldigung akzeptiere.)
Samstag, 29. Dezember 2012
Gold - LII
Paul kam es vor, als hätte er damals eine glückliche Zeit gehabt, als der Vater nach Frankfurt kam. So war es wohl auch trotz der Umstände die seine Krankheitsgeschichte begleiteten.
Die Ärztin sagt mir, sie sei verpennt. Ich müsse entschuldigen, sie hätte Nachtdienst gehabt und daher könne sie nicht so gut sprechen. Damit meint sie es noch gut mit mir. Manche denken einfach nur; scheiße, warum hält mich dieser Mensch jetzt auf. Den freundlichen Doktor, der den besorgten Angehörigen, verbindlich, aber gut gelaunt Auskunft gibt, den gibt es nicht. Der soll auch Verständnis für die Sorgen von Angehörigen aufbringen?. Die Gespräche werden den Ärzten auf genötigt, die schon ihre Mühe haben, den Alltag ohne lästige Kundenbefragungen zu meistern. Ein Dankeschön ist angebracht, wenn jemand mehr als zwei Sätze spricht, übermenschlich erscheint schon eine menschliche Dimension im Gespräch. Ein Gedanke an die Folgen für den Patienten..
So hechelt man ehrfürchtig herum, immer mit dem Gedanken, dankbar sein zu müssen. Den Verweis auf die Umstände im Kopf.
Für all das. Wenn der Patient nicht selbst in der Lage ist, sich zu äußern oder auf seine Sachen aufzupassen, dann geht viel verloren. Wir haben hier 10 Uhren, sie müssten mal vorbei kommen, um sich die richtige auszusuchen. Kenne ich die Uhr meines Vaters wieder?
Eine Brille bleibt bei einer Verlegung zurück. Immerhin, ich kriege sie wieder, bin froh auf den Gedanken gekommen zu sein, das zu kontrollieren. Wäsche verschwindet oder wird in blaue Müllsäcke mit der Aufschrift des Patienten gesteckt. Oder auch in Mülleimertüten.
Ist die Wäsche verschwunden, besteht kaum Hoffnung, der Moloch Krankenhaus verschlingt sie und spuckt sie nicht mehr aus. Schon ein Rückruf in solcher Angelegenheit ist zu viel.
Vater kriegt nicht alles mit. Das was er merkt, beunruhigt ihn zeitweise. Ich bin seine letzte Kontrollinstanz und doch kämpfe ich gegen eine Windmühle mit vielen Flügeln.
Kenne ich das Procedere von Verlegungen und Behandlungsweisen nicht. Kann nur abnicken, wenn etwas gefragt wird. Gesagt wird von selbst nicht viel und so bastele ich bruchstückhaft an einer möglichen Krankheitsgeschichte, an einem möglichen weiteren Verlauf, denn eine Prognose gibt kein Arzt. Manchmal ist man verloren, bevor man sich verloren hat.
Die Ärztin sagt mir, sie sei verpennt. Ich müsse entschuldigen, sie hätte Nachtdienst gehabt und daher könne sie nicht so gut sprechen. Damit meint sie es noch gut mit mir. Manche denken einfach nur; scheiße, warum hält mich dieser Mensch jetzt auf. Den freundlichen Doktor, der den besorgten Angehörigen, verbindlich, aber gut gelaunt Auskunft gibt, den gibt es nicht. Der soll auch Verständnis für die Sorgen von Angehörigen aufbringen?. Die Gespräche werden den Ärzten auf genötigt, die schon ihre Mühe haben, den Alltag ohne lästige Kundenbefragungen zu meistern. Ein Dankeschön ist angebracht, wenn jemand mehr als zwei Sätze spricht, übermenschlich erscheint schon eine menschliche Dimension im Gespräch. Ein Gedanke an die Folgen für den Patienten..
So hechelt man ehrfürchtig herum, immer mit dem Gedanken, dankbar sein zu müssen. Den Verweis auf die Umstände im Kopf.
Für all das. Wenn der Patient nicht selbst in der Lage ist, sich zu äußern oder auf seine Sachen aufzupassen, dann geht viel verloren. Wir haben hier 10 Uhren, sie müssten mal vorbei kommen, um sich die richtige auszusuchen. Kenne ich die Uhr meines Vaters wieder?
Eine Brille bleibt bei einer Verlegung zurück. Immerhin, ich kriege sie wieder, bin froh auf den Gedanken gekommen zu sein, das zu kontrollieren. Wäsche verschwindet oder wird in blaue Müllsäcke mit der Aufschrift des Patienten gesteckt. Oder auch in Mülleimertüten.
Ist die Wäsche verschwunden, besteht kaum Hoffnung, der Moloch Krankenhaus verschlingt sie und spuckt sie nicht mehr aus. Schon ein Rückruf in solcher Angelegenheit ist zu viel.
Vater kriegt nicht alles mit. Das was er merkt, beunruhigt ihn zeitweise. Ich bin seine letzte Kontrollinstanz und doch kämpfe ich gegen eine Windmühle mit vielen Flügeln.
Kenne ich das Procedere von Verlegungen und Behandlungsweisen nicht. Kann nur abnicken, wenn etwas gefragt wird. Gesagt wird von selbst nicht viel und so bastele ich bruchstückhaft an einer möglichen Krankheitsgeschichte, an einem möglichen weiteren Verlauf, denn eine Prognose gibt kein Arzt. Manchmal ist man verloren, bevor man sich verloren hat.
Freitag, 28. Dezember 2012
Gold - LI
Wir erhalten einen Anruf vom Heim in Nidderau, es sei doch ein Pflegeplatz frei. Das war meine Idealvorstellung, die Egon mittlerweile teilt. Als ich ihn wieder nach der Arbeit besuche, hat er die Isolation hinter sich. Er ist in einem Südzimmer mit Blick auf die Frankfurter Skyline untergebracht. Sein Bett steht am Fenster. Das Abendbrot ist schon da. Das innen stehende Bett ist mit einem alten Herrn belegt, dessen Frau am Bett sitzt. Der Mann ist bestimmt genauso schwer krank wie Vater, er spricht kaum. Vater stellt selbstironisch fest: "Ich spreche ein hervorragendes Deutsch."
Tatsächlich hat er durch die Krankheit seinen Dialekt etwas verloren. Die Mühsal des sich Artikulierenmüssens zwingt ihn zu einer deutlicheren Aussprache. Auch wenn das nicht immer gelingt, weil Kraft und Vermögen fehlen, der Kasselaner Dialekt wird schwächer. Ich muß mal wieder das Fenster öffnen, zumindest kippen, Vater billigt es mir zu. Der Geruch von zwei liegenden Patienten in einem relativ kleinen Zimmer ist schwer auszuhalten. Die alte Dame ist erleichtert. Sie meint, Vater wolle das Fenster meist zu haben, sonst hätten sie es schon öfter mal länger aufgelassen. Von dem Wasser, was ich beim letzten Besuch gebracht hatte, ist bis auf eine halbe Flasche noch alles da. Ich frage ihn, ob ich ihm mal etwas anderes mit bringen soll. Gerade hat er vom Abendessen die kleinen Gürkchen geknabbert. Er meint nun, die könnte ich ihm mal mit bringen, die würden ihm schmecken. Wenn er seine Zähne drin hat, sieht er einfach normaler aus. Ich erzähle ihm von der Zusage eines Heimplatzes bei uns in der Nähe. Er will wissen, wie weit das von uns ist. Dann meint er, meine Frau könne doch für ihn kochen. Die Vorstellung allein ist für mich so absurd, dass er das gleich sieht. Ich frage ihn, ob jemand mit ihm das Laufen geübt hat. Ja, wenn er auf den Asphalt sieht, wird ihm immer ganz schwindlig. Da er das Gehen wohl auf dem Krankenhausflur übt, kann er da nur den Boden gemeint haben. Wir sind im 8. Stockwerk, wenn man aus dem Fenster sieht, könnte man schwindeln. Die Frau des Mitpatienten sitzt mittlerweile am Tisch und liest. Sie leistet ihrem Mann einfach nur Gesellschaft. Ich hätte das meinem Vater auch gewünscht. Andererseits paßt es nicht zu ihm. Zu oft kommt seine wegwerfende Handbewegung. Er stellt fest, dass ich nun zu meinen Bübchen gehen solle, als ich mich verabschiede. Seine Vorstellung von meinem Leben und die Realität klaffen auseinander.
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