Mittwoch, 19. September 2012

Gold VI

Plastikmenschen vergehen nicht, sie werden nicht älter, obwohl sie dem Untergang geweiht sind. Und sie vergessen nichts, so wie ich. Der ich vergaß, wie die Welt ist. Ein unsichtbarer Gegner mit vielen Gesichtern. 
Gehe essen mit Kolleginnen, denen bei meinem Anblick ihr Vater einfällt, wo ich doch früher einmal mit schwingendem Röckchen gefragt wurde, ob ich nervös sei, was ich natürlich lügend verneinte.
Diese Welt bietet immer Einen, der den Fuß dazwischen hält, wenn ich eine Ebene verlassen möchte. Das Alter dagegen, es ist mir milde gesonnen. Es wird mich umbringen, schenkt mir aber neben dem milden Hauch des Vergessens ab und zu auch eine andere Persönlichkeit. Verändert mich, ohne dass ich mich verändern muss. Ritter wäre ich gern geworden, da schließt man das Visier zum Kampf. Da gibt es klare Regeln, einen Kodex. So jedenfalls wird es überliefert.
Regeln gibt es überall, mein Vater wusste das, alle wissen das. Nur ich nicht, da hat er manches mal abgewunken, aber auch gesagt, ich solle so bleiben, wie ich bin. Da war ich aber noch nicht erwachsen. Später änderte er seine Meinung. 

Mein Vater wisse nicht wo er sei, sagte mir die Krankenschwester am Telefon. Er wäre sehr aggressiv und würde nach ihr schlagen. Fast beleidigt klang das. Ich machte mir die schlimmsten Vorstellungen, wahrscheinlich würde er mich nicht erkennen. 

Eine Regel lautet zum Beispiel: lehne Dich nicht grundlos aus dem Fenster, wenn Du nicht gesichert bist. das war mir meist egal und so hatten Schutzengel bei mir Konjunktur. 

Besonders gefährlich sind Menschen, deren Gesichtsmuskulatur immer den gleichen Ausdruck modelliert. Man könnte sie für Plastikmenschen halten, aber sie sehen Dich wie ein Raubtier seine Beute.

Freitag, 14. September 2012

Gold V

Bevor ich nun diesen Hügel hinauf steige, um letztlich eine Plastikburg ohne Zugang zu sehen, sollte ich vielleicht den Gedankenzug besteigen. Und weiter geht die Reise.
Tagtäglich steige ich in richtige Züge, nur um zu merken, dass da auch keine richtigen Menschen drin sitzen. Diese Erkenntnis scheint vererbt zu sein. Mein Vater bemerkte, als ich ihn tödlich erkrankt im Krankenhaus besuchte, da kommt endlich ein Mensch. Vielleicht haben wir eine eigene Definition davon, was ein Mensch ist. 
Womöglich bin ich keiner. Ich zweifle. Menschen rennen ziel- und planlos herum und tun im Zug so, als gäbe es mich nicht. 
Ist das überhaupt ein richtiger Bahnhof, in dem ich mich bewege? Kommt hier jemand wirklich an, fährt hier jemand wirklich weg? Es scheint sich um sinnlose Bewegungen zu handeln, der Zeit zuliebe ausgeführt, damit sie vergeht.   
Warum sagt niemand den Menschen, dass alles, was getan werden kann, auch getan werden muss. 

Donnerstag, 6. September 2012

Vorsicht Kontakt!

Die Kontakter sind wieder los, die Netzwerkkontakter auf der Jagd nach dem soundsovielten Kontakt. Sie freuen sich, so sagen sie, auf interessante Kontakte.
Wollen ein Netzwerk aufbauen und Synergien finden. Möglicherweise wollen sie beraten und Projekte managen. Und sie sind alle sehr effizient an Optimierung von was auch immer interessiert. Wirklich neue Ideen verrät keiner.

Die asozialen Netzwerke, sie sind so gut wie eine bemalte Holzplatte mit Plastikmenschen darauf. 

Dienstag, 4. September 2012

Gold - IV

Eben war ich noch Teil einer Landschaft, nun sehe ich selbstgefällig über die kleinen, selbst gestalteten Hügel meiner eigenen Landschaft. Kaum ist das Knattern meiner Ski verklungen, da finde ich mich in Gedanken in meinem eigenen Zug wieder. Keine Sitze gibt es in den Waggons und keine Türen, die man mühevoll aufstoßen könnte. Alles, was nach Fenster aussieht, ist milchiger Kunststoff. An der Decke thront eine überdimensionale Lampe, die ständig an und aus geht. Der Wagen schlägt über den Schienenübergängen. Eine Dampflok zieht den Zug, aber sie dampft nicht, schnurrt nur vor sich hin, die Beschleunigungswerte sind gewaltig.
Ich muss heraus aus diesem Kindheitstraum, aber der Zug, er hält nicht an. Türen sind vorgesehen, aber nicht vorhanden. Irgendwann hält der Zug, aber nicht am Bahnhof. Das Licht verlöscht, ich falle nach unten auf das Gleis und krieche seitlich unter dem Zug hindurch ins Freie. Doch auf was für einen Boden bin ich gelandet? Teppich, nehme ich erstaunt zur Kenntnis, leicht wellig. Kein Gras, keine Erde. Durch die Plastikbäume kann ich einen See erkennen. Häuser und eine Kirche dahinter. Unter einem der Bäume steht eine Plastikbank nach hinten gekippt. Der Weg daran vorbei ist mit mannshohen Steinen begrenzt. Überall weiche ich hart gewordenen Leimfetzen aus. Eimerweise muss hier Klebstoff vergossen worden sein, auch an der Ecke der Kirche. Weiß auf grau sieht der Film aus. Die Kirchentür ist nicht aus Holz, sie hat keine Klinke und die schließt nicht. Ich muss die Tür aufstoßen. Im Inneren der Kirche ist alles leer. Eine riesige Glühbirne erhält den Raum, gehalten von zwei rieseigen Schrauben, die einen noch riesigeren weißen Kunststoffsockel halten. Es leuchtet wie auf einer Baustelle und an einen Ausblick ist gar nicht zu denken. Vor den Kunststoffwänden ist Pappe und die Fenster sind geklebt und nur schwach durchsichtig. Wieder Leim, eimerweise fand er Verwendung um für Halt zu sorgen. Ich verlasse diesen Ort fehlender Besinnlichkeit und schleiche über Kunststofftreppen auf ein eigenartiges Gewebe, dessen Struktur Pflaster imitiert. Ich sacke fast bei jedem Schritt ein. Im Hintergrund kann ich eine Burg erkennen. Mein Weg führt am Bahnhof vorbei, die Schrift auf den Hinweistafeln ist nicht lesbar. Ich folge dem Weg an einem weiteren, offenbar geklebten Haus vorbei, das weiche Gewebe sieht nun nach Straße aus, gesäumt von Plastikbüschen. Da ist ein Anstieg.

Montag, 3. September 2012

Gold - III

Parsenn

Erstmals ist es mir gelungen, etwas Sinnlichkeit in dieses Schlafzimmer unserer Ferienwohnung zu bringen. Eine kleine Sensorlampe lässt die ansonsten sehr rustikale Ausstattung dieser Wohnung vergessen. Nachts leuchtet allerdings über uns ein Sternenhimmel, in dessen Mitte die Worte „I Love You“ erscheinen. Einziemliches Phänomen und doch eines, das mir besonders am ersten Abend ein Gefühl der Geborgenheit gab. Im Skistall duftet es nach geräuchertem Fleisch, sodass sich einem der Magen umdreht.
Dann gibt es die Eiche in rustikalen Überresten in der Möblierung. Ansonsten ein bisschen Murks im Bad und keine Jalousien vor den Fenstern unserer Parterrewohnung. Nun gehen zum Glück nicht so viele Leute am Fenster vorbei. Vermutlich sind zwei Eichhörnchen die einzigen Beobachter unseres Urlaubslebens.

Eindrücke können sehr oft täuschen. Was als übersinnliches Phänomen erscheint, sind bei Tageslicht dann Pickel auf dem Putz, die mit einer im Dunkeln leuchtenden Farbe gestrichen sind. Eine passive Projektion also.

Freitag, 31. August 2012

Gold - II

Die Bilder kannst Du haben.
Schwarzweiße Gesichter blickten ihn an, eines davon war er selbst. Das Familienalbum, es ist somit aufgelöst. Er löschte seine Erinnerungen damit nicht. Vielmehr erschien ihm das Ganze wie ein durchlaufender Posten. Geradeso wie ein Doppelparker beim Weiterverkauf und ohne Verlust. Früher wäre es ein Traum gewesen, all das zu bekommen, nun ist es ein kümmerlicher Rest Vergangenheit. Zeit für Pappkartons und Bilderrahmen.

In einem solchen war ein Mann mit zwei Frauen in Skianzügen zu sehen, das Foto mit einem Selbstauslöser entstanden. Da konnte man noch was mit ihm machen, sagte die eine kalt und blickte auf das Foto.
Ein schöner Skiort war das damals. Nein, er wollte heute nicht auf den Berg. Die Schweizer Alpenmilch erledigte dafür ihren Aufstieg in seiner Speiseröhre.
Er kehrte um, die Skischuhe geöffnet und die Ski geschultert.
Die Einheimischen wenigstens zollten ihm Respekt und wollten wissen, wie der Schnee auf dem Berg sei. Gut, na sicher, er trollte sich vorsichtshalber. Verbrachte schwitzend den Aufstieg ins Dorf zurück mit dem Gedanken, was er hier mit diesem Tag anfangen sollte.

Iß noch ein Stück, er konnte nicht mehr.

Donnerstag, 30. August 2012

Gold - I

Streusel prasselten auf den Teller, als er in den Kuchen biss. Wie kleine Goldkugeln lagen sie da. Leider ist ein frischer Kuchen vom Blech ein seltenes Ereignis. Das hier war offensichtlich ein frisch gekaufter. Frisch gesiebte Nuggets, der Rest ist gegessen.
Nein, er wollte nicht noch mehr Stücke. 
In einem nach kaltem Zigarettenrauch riechenden Jutebeutel lagerten die eigentlichen "Goldstücke" des Tages. Die Reste einer Modelleisenbahn: Gleise, Weichen, Signale, Drähte, eine Diesellok, eine Dampflok und ein Triebwagen. Die müssen alle geölt werden, sie quietschen. Das Gehäuse des Triebwagens ist locker.
Alle Güterwagen und ein Personenwagen 1. Klasse fehlen.
Und da liegen noch diese Bilder aus vergangenen Zeiten. 
Vor über dreißig Jahren fragte sich ein Junge am Heiligabend, ob das wohl alles wäre, was er vom sogenannten Weihnachtsmann als Geschenk bekommen hatte.     
Er hatte die Arbeit, die das Aufschrauben der Gleise auf die bemalte Holzplatte, das Verlegen der Leitungen und die gesamte Montage bedeuteten, falsch eingeschätzt. Vater hatte mit einem Arbeitskollegen alles selbst gemacht.
Ein paar mehr und kleinere Geschenke wären ihm lieber gewesen damals.
Als ob ich schon ahnte, dass dieses Geschenk mir nicht allein gehören würde.
Mein Brüderchen war noch zu klein, um sich am Spiel zu beteiligen.
er sollte jedoch später umso höheres Interesse daran entwickeln. 
All diese Anstrengungen steckten in dieser Eisenbahn. Zwei Gleisrunden auf einer flachen Platte, mehr war das nicht. Da half es auch nicht, dass der Triebwagen bei rot stoppte, die automatische Weiche funktionierte und das in der Kirche bei Bedarf eine Klingel die Glockenfunktion übernahm.
Ein Tunnel war die einzige Möglichkeit, den Triebwagen verschwinden zu sehen. -

Er hatte in der Realität dieses Schauspiel des Verschwindens und Wiederauftauchens von Zügen sooft bewundert. Die Dampfloks, die vom Kasseler Hauptbahnhof kamen, mussten unter der Straßenbrücke am Tannenwäldchen hindurch. Der Dampf verschwand vor der Brücke und tauchte danach wieder auf. Er bemerkte nicht, wie er vor Spannung das rostige Brückengeländer umklammerte. Mit roten Händen lief er immer nach einiger Zeit nach hause.